Bundesverfassungsgericht

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 12. Oktober 1955

1 BvC 1/54

BVerfGE 4, 316

„Formwidrige Unterschriftenliste“


Informationen Informationen zur Entscheidung, Entscheidungen 1950–1959

[BVerfGE 4, 316 (316)] Beschluß

des Ersten Senats vom 12. Oktober 1955
– 2 BvC 1/54 –

in dem Verfahren
betreffend
die Beschwerde

des Dr. G. gegen den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 28. Mai 1954.

Entscheidungsformel:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

 
1. Der Beschwerdeführer hat für die Wahl zum zweiten Deutschen Bundestag im Wahlkreis 54 (Peine-Gifhorn) als Vertrauensmann der Wählergruppe „Nationale Arbeiterpartei (NAP)“ einen Kreiswahlvorschlag eingereicht, der von 553 Wahlberechtigten unterzeichnet war. Der Kreiswahlausschuß hat den Wahlvorschlag zurückgewiesen, weil die beigebrachten Unterschriften von Wahlberechtigten nicht auf dem in § 25 Abs. 3 der Bundeswahlordnung (BWO) vom 15. Juli 1953 (BGBl. I S. 514) vorgesehenen amtlichen Formblatt abgegeben und von den 553 Unterschriften nur 88, wie es § 25 Abs. 3 BWO entspricht, mit Vor- und Zunamen, die übrigen nur mit dem Zunamen geleistet worden waren. Der Landeswahlausschuß hat die gegen diesen Beschluß eingereichte Beschwerde zurückgewiesen. 1
2. Der Beschwerdeführer hat gegen die Wahl zum zweiten Deutschen Bundestag im Wahlkreis 54 beim Bundestag Einspruch eingelegt. Er vertritt die Auffassung, daß § 25 Abs. 3 BWO die in § 57 des Bundeswahlgesetzes (BWG) vom 8. Juli 1953 (BGBl. I S. 470) dem Bundesminister des Innern erteilte Ermächtigung überschreite und deshalb nichtig sei. Aber auch wenn man die Gültigkeit des § 25 Abs. 3 BWO bejahe, sei der Kreiswahlvorschlag zu Unrecht zurückgewiesen worden, denn [BVerfGE 4, 316 (317)] er erfülle sinngemäß die in dieser Bestimmung gestellten Anforderungen. Es sei der Sinn des § 25 Abs. 3 BWO, die Identität der unterschreibenden Personen sicherzustellen und die Möglichkeit von Unterschleifen einzuschränken; ferner solle den Behörden die Verwaltungsarbeit erleichtert werden. Dies sei bei dem von ihm gewählten Formblatt ebenso gewährleistet wie bei dem amtlich herausgegebenen. Unbeachtlich sei es, daß die Wahlberechtigten auf den Unterschriftenlisten nur mit dem Zunamen unterschrieben hätten, denn die Identität der Personen werde durch die beigefügte amtliche Wahlrechtsbescheinigung nachgewiesen. Sein Einspruch müsse ferner bereits deshalb Erfolg haben, weil bei der Behandlung seiner Beschwerde im niedersächsischen Landeswahlausschuß gegen zwingende Verfahrensvorschriften verstoßen worden sei; seine Beschwerde sei nicht wie vorgeschrieben wörtlich verlesen, sondern es sei nur ihr Inhalt mitgeteilt worden. Bei Zulassung des von ihm vertretenen Kreiswahlvorschlags hätte die Wahl im Wahlkreis 54 im Hinblick auf die geringe Differenz zwischen den für den obsiegenden Wahlkreisbewerber Dr. Schöne (SPD) und den nächstfolgenden Bewerber abgegebenen Stimmen (32.584 zu 31.318) möglicherweise zu einem anderen Ergebnis geführt. Der Beschwerdeführer hat beantragt, die Wahl im Wahlkreis 54 für ungültig zu erklären. 2
3. Der Bundestag hat durch den angefochtenen Beschluß den Einspruch zurückgewiesen. Die Verwendung eines nicht amtlich herausgegebenen Formblatts sei ein Verstoß gegen eine zwingende Gesetzesvorschrift, der schon deshalb den Wahlvorschlag ungültig mache. Außerdem weiche das von dem Beschwerdeführer eingereichte Formblatt wesentlich von dem amtlichen Formblatt ab. Es verleite durch seine Gestaltung im Unterschied vom amtlichen Formblatt dazu, die Unterschrift nicht, wie in § 25 Abs. 3 BWO vorgeschrieben, mit Vor- und Zunamen, sondern nur mit dem Zunamen zu leisten. Der Kreiswahlvorschlag sei daher zu Recht zurückgewiesen worden. Die Vereinbarkeit der Bundeswahlordnung mit dem Bundeswahlgesetz könne der Bundestag nicht nachprüfen. 3
[BVerfGE 4, 316 (318)] 4. Die fristgerecht eingereichte Beschwerde hält die bereits im Einspruch vorgebrachten Einwendungen aufrecht. Sie wird von mehr als 100 Wahlberechtigten unterstützt. 4
Die Beschwerde wurde dem Bundestag, dem Bundesminister des Innern, dem Bundeswahlleiter, der SPD-Bundestagsfraktion und dem Abgeordneten Dr. Schöne mitgeteilt. Der Bundestag, der Bundesminister des Innern und die SPD-Bundestagsfraktion haben sich zu ihr geäußert. Sie sind der Auffassung, daß die Beschwerde zurückzuweisen sei. Alle Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet. 5

II.

Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet. 6
1. Die Rüge des Beschwerdeführers, § 25 Abs. 3 BWO sei nichtig, weil der Bundesminister des Innern die ihm in § 57 Abs. 1 BWG erteilte Ermächtigung überschritten habe, greift nicht durch. § 57 Abs. 1 BWG ermächtigt den Bundesminister des Innern, in der Bundeswahlordnung Rechtsvorschriften zur Ausführung der ... §§ 25 bis 35 BWG über Einreichung, Inhalt und Form der Wahlvorschläge und Landeslisten sowie über das Verfahren für ihre Prüfung, Zulassung und Bekanntgabe zu erlassen. Von dieser Ermächtigung hat der Bundesminister des Innern u. a. durch § 25 Abs. 3 BWO Gebrauch gemacht, der Vorschriften über den Inhalt und die Form der Wahlvorschläge enthält und die technischen Vorgänge bei der Einreichung der Wahlvorschläge regelt. 7
Die in § 25 Abs. 3 BWO geforderte persönliche und handschriftliche Unterzeichnung des Wahlvorschlags mit Vor- und Zunamen soll verhindern, daß Unterschriften gefälscht werden oder daß etwa – wie es vorkommt – ein Familienmitglied die Unterschriften zugleich für andere wahlberechtigte Familienmitglieder leistet. Die zwingende Forderung der persönlichen und handschriftlichen Unterzeichnung des Wahlvorschlags mit Vor- und Zunamen ist daher durch sachliche Erwägungen gedeckt. Die weitere Bestimmung, daß ein amtliches Formblatt zu verwenden [BVerfGE 4, 316 (319)] ist, soll den Behörden die Kontrolle und die Bearbeitung der Wahlvorschläge erleichtern. Dies erscheint um so notwendiger, als die Prüfung der Wahlvorschläge stets innerhalb weniger Tage vorgenommen werden muß. 8
§ 25 Abs. 3 BWO hält sich daher im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung. Er verstößt auch nicht gegen verfassungsmäßige Wahlrechtsgrundsätze (vgl. auch BVerfGE 3, 19 <31>). 9
2. § 25 Abs. 3 BWO ist zwingendes Recht. Gegen ihn hat der vom Beschwerdeführer eingereichte Wahlvorschlag dadurch verstoßen, daß von den eingereichten 553 Unterschriften nur 88 mit Vor- und Zunamen geleistet waren. Nur diese 88 Unterschriften durften daher bei der Prüfung des Wahlvorschlags berücksichtigt werden. Infolgedessen war die durch § 26 Abs. 2 BWG geforderte Zahl von 500 Unterschriften für den Kreiswahlvorschlag nicht erreicht. Der Wahlvorschlag war daher bereits aus diesem Grunde zurückzuweisen. Die Frage, welche Anforderungen ein Formblatt erfüllen muß, um als amtliches Formblatt im Sinne des § 25 Abs. 3 BWO zu gelten, bedarf daher keiner Erörterung. 10
Da der Kreiswahlvorschlag des Beschwerdeführers somit zu Recht zurückgewiesen wurde, ist die Entscheidung des Bundestages zumindest im Ergebnis zutreffend. Der vom Beschwerdeführer behauptete Formverstoß bei der Behandlung seiner Beschwerde im niedersächsischen Landeswahlausschuß ist ohne Bedeutung. Selbst wenn er vorgekommen sein sollte, hätte er die Entscheidung des Landeswahlausschusses ersichtlich nicht beeinflußt. 11
Die Beschwerde war daher als unbegründet zurückzuweisen. 12

 


Matthias Cantow